Das Ich besitzt die mathematische Formel für das Leben eines Menschen. Um diese Formel zu entschlüsseln, braucht es eine seelische und geistige Reife, letztendlich auch eine Art von physischer Alterung. Etwa mit 70 Jahren sind wir so weit. Dann haben wir die physische Reife, die seelische Distanz und geistige Klarheit, um diese Lebensformel zu verstehen. Es ist in großen Teilen unsere ganze eigene Lebensformel. Niemand anderes besitzt exakt dasselbe Schema. In Kenntnis dieses Strickmusters können wir uns darüber klar werden, wie das menschliche Ich unser persönlicher Baumeister werden konnte. Im Blickfeld stehen dabei allerdings keine Gesetzmäßigkeiten von Zahlen und geometrischen Figuren, sondern das Erkennen biografischer Muster. Solche Muster bestehen aus Leitbildern, Sichtweisen und Standards. Sie bestehen aber auch aus Moral, Prinzipien und Willensimpulsen. In Kenntnis unserer Lebensformel mit etwa 70 Jahren sind wir in der Lage, unser Handeln mit 10, 20, 30, 40, 50 und 60 Jahren und in den Jahren dazwischen mit innerer, sich selbst tragender Gewissheit zu ergründen.


Fragen, die wir mit 70 Jahren beantworten können, sind in etwa die folgenden: Welche unserer Entscheidungen hatte die größte Wirkung auf unsere Biografie? Welches Ereignis hat mein Leben in außergewöhnlicher Weise geprägt? Mit welchen Menschen kann ich mich identifizieren? Durch welche Prüfungen bin ich gegangen?


Am Anfang ist unser Ich in seinen personalen Bauprojekten noch intuitiv, aber dennoch schon hingeordnet auf unser Lebensziel. Dieses Lebensziel ist das der Freiheit, wobei es so viele verschiedene, biografische Wege zur Freiheit wie Menschen auf der Erde gibt. Freiheit ist immer ein „frei“ sein von etwas Beschränkendem, Einengenden oder Unfreimachendem. Wie weit wir auf diesem Weg der Befreiung in dieser Inkarnation gekommen sind und welche Strecke uns bis zum Erreichen der Freiheit noch bevorsteht, das eröffnet sich uns etwa mit 70, wenn wir nicht schon vorher Schritte in die Erkenntnis mit einer Antwort gegangen sind. Wäre das Leben eine selbsterbaute Brücke, welche die Lasten von uns selbst zu tragen hat, aber auch die Gewichte von Menschen, Tieren und Fuhrwerken, so wäre unser Ich der Baumeister dieser Brücke. Aus früheren Leben bringt das Ich die Erfahrung beim Planen und Errichten von Lebensformeln mit. Es soll niemand glauben, dass er ohne eine solche Vorbereitung, die in frühere Inkarnationen zurückreicht, sein heutiges Lebensgeschehen bewältigen könnte. Kein Neugeborenes fängt mit einer Null an. Jedes Kind hat schon ein beachtliches Habenkonto, das es mit auf die Welt bringt. Doch nichtdestotrotz stehen wir mit jeder neuen Geburt vor der Aufgabe, uns auf die Schwerkraft der Erde einzulassen, dem Leben auf der Erde etwas abzugewinnen, uns moralisch zu reinigen, den Einfluss der Sterne und Planeten zu respektieren und neue Fähigkeiten zu erlernen.


Insofern gleicht unser Ich einem Baumeister aus dem Mittelalter. Er besaß einen Vorrat an Kenntnissen. Was ihm durch Erfahrung und Intuition zukam, gab seinen Bauwerken die Grundlage. Mathematische Kenntnisse standen ihm meist nicht zur Verfügung. Erst die Architekten der Neuzeit haben die mathematischen Erklärungen für die mittelalterlichen Bauwerke nachgeliefert. Für die Architekten von heute ist es oft ein Rätsel, wie ihre Kollegen aus früheren Jahrhunderten zu ihren Lösungen gekommen sind. Die Jungen hätten es sich erst gar nicht getraut, so groß und so wagemutig zu bauen wie die Alten. Um so mehr können die Architekten von heute stolz sein auf ihre damaligen Berufskollegen. So wie Kopernikus im fernen Frauenburg umgekehrt stolz sein konnte auf den noch jungen Mathematiker Georg Joachim Rheticus aus Nürnberg. Denn dieser besuchte Kopernikus mit dem Ansinnen, ihm seine astronomischen Annahmen mathematisch zu beweisen, was auch gelang. Rheticus sorgte außerdem dafür, dass die Schriften von Kopernikus den Weg in die Nürnberger Druckereien fanden, um publiziert zu werden. Diese Schriften hatten nicht weniger zum Inhalt, als die wissenschaftliche Erklärung für das heliozentrische Weltbild, wie es nach Kopernikus Galileo Galilei vertrat.


Genauso können wir heute mit 70 Jahren stolz darauf sein, was das eigene Ich an Lebensformel geschaffen hat, angefangen von der Kindheit, in der Jugend und in den Jahren der jungen Erwachsenseins. Aber auch später, mit 30, 40 oder 50 Jahren wurden geschaffen, womit das eigene Ich sich unseren Respekt verdient hat. Unter dem Einfluss unseres Ichs stand nicht nur das, was wir als Kind gelernt haben, sondern auch all das, womit wir in diesem frühen Alter Freude am Leben hatten. Genauso wie das spätere Studium und die Wahl des Berufs, stets war das Ich als Architekt unseres Lebens beteiligt. Was unserem Ich wichtig war, zeigte sich auch in der Wahl unseres Partners und, von uns meist unerkannt, in den seelischen Regungen, in den Argumenten, ihrem Abwägen und in den Überlegungen und Eingebungen, die wir unseren Entscheidungen zugrundegelegt haben. Auf dieselbe Weise begreifen wir erst im Nachhinein, was unser Ich an biografischen Mustern für uns und die Welt geschaffen hat. Erst mit 70 erlangen wir diese Fähigkeit. Sie lässt uns herausfinden, worin unsere eigene, biografische Formel besteht. Erst mithilfe des Musters dieser Formel können wir bewundernd feststellen, was es uns gebracht hat, so gelebt zu haben, wie wir bisher gelebt haben. Die biografischen Gesetzmäßigkeiten, an denen all die Jahre unser Ich gearbeitet hat, ließ uns frei werden von psychologischem Ballast und seelischem Gerümpel. Es hat uns emporgehoben aus den Abgründen, die uns tagtäglich umgaben und weiterhin umgeben. Die Dankbarkeit, in all den Jahren vor dem Sumpf unzähliger Gefahren gerettet worden zu sein, gilt in erster Linie unserem Ich.

Das Ich ist das biografische Gesetz, was und warum wir etwas tun. Es schafft die Muster, die unser Handeln leiten und die uns Aufschluss darüber geben, warum wir in der Vergangenheit etwas so und nicht anders entschieden haben. Das Ich verbindet sich dabei aus der Gegenwart heraus mit seinem früheren Handeln. Insofern können wir unsere Gegenwart als unabgeschlossen betrachten. Indem wir die Vergangenheit verstehen, öffnet sich uns die Gegenwart als etwas, das uns die Freiheit gibt, neu zu entscheiden, was und wie wir etwas tun wollen. Das Unabgeschlossene der Gegenwart besteht darin, immer wieder neu vor jeder Entscheidung auf unser Ich hinzuhorchen. Und immer wieder neu machen wir die Erfahrung, dass unser Ich uns freie Hand lässt, uns so oder so zu entscheiden. Es engt uns nicht ein, so wie es uns in der Vergangenheit nie beeinträchtigt hat. Teil seines zentralen Musters ist es, uns die Freiheit zu geben, die wir brauchen, um uns frei zu machen von allem beengenden, unreinen Ballast des Alltags. Dieser Freiheitsgewinn macht es uns leichter, heute mit 70 Jahren den Anteil unseres Ich und das Ich anderer am Geschehen der Gegenwart stärker zu bemerken. Es bestätigt sich uns die biografische Gesetzmäßigkeit, nach der jeder Mensch durch sein Ich die Chance erhält, sein Handeln frei zu bestimmen. Was das angeht, ergibt sich mit 70 ein stärkerer Austausch mit uns selbst. Die Freiheit steigert sich mit dem Anstieg der Lebensjahre. Wenn wir 70 sind, tun wir kaum noch etwas, ohne unser Ich in eine Entscheidung einzubeziehen.


Im Rückblick erkennen wir, wie bescheiden wir in der Knaben- und Mädchenzeit damit waren, Ich-bestimmt zu sein. In den Jahren zwischen 28 und 35 Jahren war der Ich-Anteil bedeutend größer als noch mit 17 Jahren. Mit 40 gehen wir mit dem, was wir sind und tun, schon stärker in Tuchfühlung als mit 28. Diese Abstufungen zu erkennen, fällt uns leicht, wenn wir mit unserem 70-jährigen, unabhängigen Ich in die Berührung mit der damaligen Zeit gehen. Durch diese Erkenntnis erleben wir noch intensiver das Unabgeschlossene der Gegenwart. Denn nun erst wir wissen, an welchen biografischen Weggabelungen in der Vergangenheit wir den Weg in die Freiheit genommen haben.


Der Mensch ist so beschaffen, dass er das, was er der Materie durch sein Handeln einprägt, erst dann richtig fassen kann, wenn er es als Ausfluss eines höheren Willens verstehen gelernt hat. Mit dem Ich verfügen wir über diesen höheren Willen. Es bildet ab, was wir tun, gibt aber auch Aufschluss darüber, was wir nicht tun. Im Rückblick erscheint dann das Ganze wie ein Kunstwerk. Nicht der Verstand und auch nicht irgendwelche Begrifflichkeiten helfen uns, das damalige Geschehen zu verstehen, sondern einzig die Erkenntnis, unter der Führung des eigenen Ichs gestanden zu haben. Erst heute, mit 70, können wir das, was mit uns geschehen ist, unserem Leben neutral einmengen, da wir es nunmehr geistig erleben. Dazu leben wir mit uns und unserer Vergangenheit in der Welt als Geist.


Wer oder was unsere Gegenwart auch immer zu einer abgeschlossenen Einheit verengen will, drängt uns aus der Welt des Geistes heraus. Verlassen wir diese Welt des Geistes, bewegen wir uns auf die geschlossene Organisation eines Tieres zu. Hier zeigt sich: Das Tier ist in seiner Organisation vergleichsweise viel mehr abgeschlossen gegenüber der Umwelt als der Mensch. Aus diesem Grund kann der Mensch in einem höheren Maß an der Außenwelt teilnehmen. Jeglicher Abschottung sollten wir uns daher widersetzen. Es bedeutet eben kein Glück, keine Freiheit und keinen Frieden, wenn wir aufhören, unserem freien Zentrum biografisch zu folgen. Es bedeutet Freiheitsverlust, wenn wir unsere Sinne nicht mehr frei gebrauchen können. Und es meint eben das Gegenteil von Freiheit, wenn wir unsere Vergangenheit nicht mehr für eine neue Gegenwart aufschließen können.