Dass die Seele nicht nur fühlen, sondern auch denken kann, diese Erfahrung machen wir mit ungefähr 28. Zu etwa derselben Zeit besinnt sich der Mensch darauf, seinen Verstand zu nutzen. An den Verstand geht dabei auch die Verantwortung fürs Gefühl. Mit dem Wahrheitsgefühl begleitet die Seele das Denken ab circa dem 35. Lebensjahr. Es ist die Zeit für das Gefühl zur Bewahrheitung des Denkens.
Im 28. Lebensjahr beginnt das Licht des Denkens allmählich die Gefühle zu durchströmen. Im Idealfall leitet das Denken fortan das Gefühl. Zuvor, etwa mit 23 oder 24 Jahren, bestand noch Unklarheit, was es mit der Seele überhaupt auf sich hat. Würde man sie jemals innerlich zu fassen bekommen? Und was, außer diesem Seelischen, haben wir, um die Kontrolle über uns zu haben? Man übt sich in diesem Alter im Hinschauen, um sogleich für oder gegen etwas zu sein, man verströmt Sympathien, Antipathien oder aber man hält sich vornehm zurück. Langsam schwant es einem, der Umgang mit diesen Kräften braucht Führung, die von innen kommt. Wie aber soll das gehen ohne etwas, das uns dauerhaft begleitet?
Zwar lebt der Mensch inmitten dieser emotionalen Kräfte schon ein paar Jahre zuvor, in der Jugend. Da drangen die Gefühle von innen nach außen, nun aber mit 23 oder 24 ist es, als strömten sie von außen ins Innere. Dieser Strom aus Affekten, Leidenschaften und Trieben, die auf uns eindringen, bringen die Seele nicht hervor, helfen aber, sie zu formen. Empfinde deine Seele, lautet der stille Wahlspruch mit 23 oder 24 Jahren.
Mit dem 28. Lebensjahr folgt der Wechsel hin zu dem, was man Verantwortungsseele nennen kann. Der Verstand übernimmt Verantwortung für das Gefühl. Aber da ist noch etwas anderes neben dem Verstandeswunsch, sich nützlich zu machen, zu lernen und anerkannt zu sein. Es ist das Ich, das allmählich seinen Platz in dem vom Denken geleiteten Gefühl einnimmt. Sobald das Ich erscheint, müssen wir auch die Frage beantworten: Ist der Egoismus etwas für mich Bestimmendes, oder kann ich auf ihn verzichten? Der etwa 28-jährige Mensch hat die Wahl, seine Seelenkräfte egoistisch einzusetzen oder aber mit dem eigenen Ich „in sich einen immer stärkeren und stärkeren Mittelpunkt“ zu bilden.[1] Letzteres ermöglicht es, ein Gemüt auszubilden. Denn der Standpunkt in der Mitte macht es möglich, „dass wir die Eigenschaften unserer Seele von innen heraus läutern und reinigen und verarbeiten, so dass wir Herr und Leiter und Führer werden innerhalb unserer Willensimpulse, innerhalb unseres Gefühls- und Gedankenlebens.“[2] Aber will solch eine Macht nicht auch von der Seele ausgehen?
„Die menschliche Seele“, sagt Rudolf Steiner, „ist in einer Entwicklung begriffen, deren Ende und Ziel sie nicht zu jeder Zeit absehen kann.“[3] Wird die Seele mit 28 nicht mit dem Licht des Denkens durchströmt, bleibt sie zunächst führungslos. Tritt demgegenüber die Vormachtstellung des Denkens innerhalb der Seele in Erscheinung, dann wird allmählich in der Verstandes- und Gemütsseele das menschliche Ich sichtbar. Es tritt gewissermaßen in seine Rechte ein. Im Ergebnis sind wir mit circa 30 Jahren bei klarem Verstand und beherzigen, was uns im Beruf der Chef vorgibt. Das entsprechende Gefühl findet sich in dem Wort Verantwortungsgefühl. Es macht den Verstand zur Grundlage des Denkens. Es gibt dem Denken die Rückversicherung, zu wissen, wer Verstand hat und wer nicht.
Doch was passiert, wenn sich mit der Verstandes- und Gemütsseele nur wenig oder gar kein Verantwortungsgefühl ausbildet? Dann leidet der Verstand. Die Seele ist in diesem Fall nicht durchlässig genug für das Denken. Gemütskälte, Wankelmütigkeit, Gemütsarmut oder ideologische Verblendung sind die Folgen. Das Gemüt findet ohne den Verstand nicht zu sich selbst. Das Ich erwirbt sich nicht die seelisch-geistige Führerschaft. Im ungünstigen Fall haben wir circa 20 Jahre später einen gemütsarmen 50-, 51- oder 52-jährigen Menschen vor uns. Er fängt die äußeren Eindrücke ein und transportiert sie in sein Inneres, ohne sie der strengen Kontrolle des Denkens zu unterziehen. Stattdessen bildet er sich ein, noch einmal 22 oder 23 zu sein. Die Seele bleibt im Frühstadium des Verstandes stecken und kann nicht viel mehr, als gute oder schlechte Noten zu verteilen. In genereller Verantwortungslosigkeit versucht solch ein Armseliger, das Institutionelle in der Welt zu zerstören. Er fürchtet sich davor, Verantwortung zu übernehmen.
Auf dem regulären Weg führt uns die Seele etwa im 35. Lebensjahr zur Bewusstseinsseele. Sie gibt dem Denken das Wahrheitsgefühl. Was uns fühlen lässt, was wahr ist oder wahr sein könnte, ermöglicht die „Bewahrheitung des Denkens.“[4] Den Anfang macht dabei die Steigerung der Denkkraft. Daraus resultiert ein Zuwachs an Bewusstheit, die wiederum dem Wissen von der Welt und von sich selbst zugutekommt. Im gleichen Atemzug wird ein Interesse am Unbekannten geweckt. Das führt zu einem Denken über Welten, die außerhalb der sinnlichen Welt liegen, „die zunächst dem Menschen unbekannt sind, die der Mensch zunächst nicht überschauen kann?“[5] Der Wille, es zu überschauen und das liebende Gefühl, sich dem Unbekannten anzunähern, ermöglicht es, das Unbekannte zu denken. Bevor es gedacht werden kann, braucht es aber das liebende Umfassen des Übersinnlichen. Der Wille verwandelt sich zur Ergebenheit in das Unbekannte. Liebe und Ergebenheit aber vereinen sich zur Andacht. Insofern weiß die Seele mit etwa 42 sehr wohl, was das Ziel ihrer Entwicklung ist, sie muss es nur erst dazu bringen, mithilfe des Ichs die Mission der Andacht zu verstehen.
[1] GA 58, Die Mission der Andacht, S. 112
[2] GA 58, Die Mission der Andacht, S. 112
[3] GA 58, Die Mission der Andacht, S. 110
[4] GA 58, die Mission der Andacht, S. 117
[5] GA 58, die Mission der Andacht, S. 117