Den Verstorbenen nahe sein
Der Tod der eigenen Mutter hat eine Desillusionierung zur Folge. Die Illusion zu Lebzeiten bestand für die 58-jährige Tochter darin, nahe bei der Mutter sein zu müssen. Immerhin war die alte Dame pflegebedürftig und 81. Für die 58-jährige Tochter ergab sich durch den Tod der Verstorbenen eine neue, distanziertere Situation. Durch ihren Tod erfuhr die Mutter einen Stellungswechsel. Sie bildete fortan nicht mehr den Lebensmittelpunkt der Tochter. Es kümmerte sich fortan ein Engel um sie. Der Schmerz des Verlustes für die Zurückbleibende kann dadurch ausgeglichen werden, dass sie sich sagt: Meine Mutter lebt nun an einem neuen, weit entfernten Ort. Wäre sie noch an ihrem alten Ort auf der Erde, würde man sich zu ihr in gleicher Weise bekennen, wie zuvor. Dann wäre sie weiter unser Lebensmittelpunkt. So aber bietet sich die Möglichkeit, sich weiter zu ihr zu bekennen, aber an einem anderen Ort. Das bedeutet nicht, in Distanz zu der ablebenden Person zu gehen. Im Gegenteil, man bleibt ihr verbunden. Man kann sie von hier aus begleiten. Man kann ihr von hier aus nahe sein.
Zum seelischen Unterstützer werden
Nehmen wir an, die 58-jährigen Tochter, die mit der Mutter in den USA gelebt hat, zieht nach dem Tod der Mutter nach Portugal. Mit dem Wohnort in Portugal justiert sie die Entfernung neu, die sie zu ihrer verstorbenen Mutter einnimmt. Es hat mit ihrem Bewegungssinn zu tun, wenn sie die neue Distanz erfühlt, die ihre Mutter in der anderen Welt zu ihrem neuen Aufenthaltsort auf der Erde einnimmt. In Portugal kann sich die empfundene räumliche Entfernung zur gestorbenen Mutter durchaus verkürzen. Zwar rückt die Tochter durch den Umzug nach Portugal weiter weg von der alten Wohnstätte in den USA, aber die seelische Distanz zum Herzen der Mutter kann in Portugal geringer werden, sofern sie von hier aus zum seelischen Unterstützer ihrer Mutter wird. Umgekehrt nimmt die Verstorbene den Wohnortwechsel zum Anlass, ihrer Tochter zu folgen. Die Mutter wird das Gefühl haben, ihrer Tochter nahe sein zu wollen.
Junge Verstorbene bleiben in unserer Nähe
Wenn wir einen Anverwandten durch Tod verlieren, macht es einen Unterschied, ob der Verstorbene ein junger oder ein älterer Mensch war. Ein älterer hingestorbener Mensch entfernt sich im Bewusstsein vergleichsweise schnell von der Seele, die zurückbleibt. Gehen jüngere Leute den Gang durch die Pforte des Todes, entfernen sie sich dagegen nicht oder nur wenig von den zurückgebliebenen Lebenden. Rudolf Steiner sagt von den jungen Toten: „Sie bleiben in der Nähe.“
Die Altersangabe lässt uns den anderen begleiten
Als die Tochter einem Nachbarn sagte, ihre Mutter sei gestorben, fragte dieser sogleich, wie alt die Verstorbene geworden ist. Die Mutter in unserem Beispiel war 81, als sie gestorben ist. Die Altersangabe ist etwas, das es einem Fremden möglich macht, mit diesem Geschehen angemessen umzugehen. Mit dieser Information können wir als Unbeteiligte beginnen, uns an dem Ereignis zu beteiligen. Möglicherweise sind wir durch diese Information sogar in der Lage, die Verstorbene auf ihrem Weg in die geistige Welt zu begleiten.
Das Zeitmaß der Toten
Wenngleich in der anderen Welt keine Erdenjahre gelten, bereitet es uns Genugtuung, zu hören, dass in der unserer Welt das Zeitmaß das alte bleibt: das Erdenjahr, demzufolge die Erde in 365 Tagen die Sonne einmal umkreist. Als zeitliche Begleitperson verbleibt man selbst in den Erdenjahren, die Tote dagegen gehorcht einem uns unbekannten Zeitmaß.
Der Geist ist das nie versiegende Leben
Ein anderer Einflussfaktor ist das eigene Lebensalter. Es macht einen Unterschied, ob ich selbst 13, 33, 44 oder noch älter bin, wenn meine Mutter die physische Welt verlässt. Es steht nirgendwo geschrieben, dass wir mit 58 Jahren unsere Mutter verlieren müssen, doch zuweilen geschieht genau dies. Im vorliegenden Fall begleiten wir die erwähnte 58-jährige Amerikanerin, welche ihre 81-jährige Mutter verloren hat. Von der besagten Amerikanerin, eine Mutter von vier Kindern, ist die Aussage überliefert: „Der Verlust meiner Mutter hat mich völlig verändert.“ Durch ihren Tod sei ihr die Vergänglichkeit des Lebens bewusst geworden: „Ich habe mehr Zeit hinter mir als vor mir.“ Die Tochter meinte zudem, dass sie dieses Ereignis der geistigen Welt näherbringt. Den Tod des anderen schauen wir uns naturgemäß von der physischen Welt aus an. Schaut man den Tod von dieser Seite aus an, hat er gewiss viele schmerzlichen Seiten. Wenn man den Tod aber von der anderen Seite ansieht, wenn man gestorben ist, dann ist er das befriedigendste, vollkommenste Ereignis, das man überhaupt erleben kann. Diese Erkenntnis stützt sich auf die Angaben Rudolf Steiners, dass physische und geistige Welt sich im Hinblick auf den Tod fundamental voneinander unterscheiden. In der physischen Welt haben wir die Empfindung, „Wie hinfällig, wie vergänglich das physische Leben des Menschen ist.“ Dagegen ist der Tod von der geistigen Seite abgeschaut, „gerade der Beweis dafür, dass immerdar der Geist den Sieg über alles Ungeistige davonträgt, dass immerdar der Geist das Leben ist, das unvergänglikche, das nie versiegende Leben.“
Das andere Ich begibt sich in unsere Seele
Stirbt ein jüngeres Familienmitglied, wenn wir 58 Jahre alt sind, beispielsweise ein Kind, das 30 Jahre alt geworden ist, dann kann es sein, dass wir ihm hinterher sterben wollen. Wenn der Tod des Jüngeren von einem selbst erlebt werden will, ist in Erwägung zu ziehen, dass der Verstorbene selbst aus uns spricht. Sein Ich begibt sich dazu in unsere Seele und spricht aus ihr, während wir annehmen, selbst zu sprechen. Diese Möglichkeit des Stimmen-Austauschs sollten wir zumindest in Betracht ziehen, immer dann, wenn der Wunsch vorliegt, in irgendeiner Weise die Rollen zu tauschen. Das Ich des Verstorbenen kann durchaus aus meinem Ich sprechen.
Der Tod bewirkt ein neues Zeitgefühl
Durch den Tod einer 81-jährigen Mutter verändert sich das Zeitgefühl der Zurückbleibenden. Die 58-jährige Tochter denkt, eines nicht mehr so fernen Tages werde sie selbst in die andere Welt gelangen. Die Tochter stellt sich die geistige Existenz vor, in die sie in nicht mehr so ferner Zeit selbst einmal eintreten wird. Durch den Tod der Mutter verkürzt sich die Zeit gefühlsmäßig, die der Tochter noch in der physischen Welt lebt. Voraussetzung für eine solche gefühlsmäßige Zeitverkürzung ist, dass der Verstorbene von dem Betreffenden innig geliebt wurde. Ihn auf der Erde zu lieben, machte einen Teil seiner Identität aus. Mit ihm hat man sich identifiziert. Daneben hängt die zeitliche Dringlichkeit, mit der man dem anderen nachtrauert, auch mit der Unsicherheit zusammen, nicht zu wissen, wo genau sich der Verstorbene jetzt befindet.
Durch den Tod entsteht ein subjektiver Zeitverlust
Der Verstorbene befindet sich in der geistigen Welt. Der intensive Gedanke an die Welt dort nimmt uns gefühlsmäßig die Zeit weg, die wir in der physischen Welt noch zur Verfügung haben. Die Zeit wird dem Gefühl nach zusätzlich dadurch verkürzt, dass wir den lieben Menschen zurückhaben wollen. Daher ist es wichtig, nicht die Vorstellung aufkommen zu lassen, als wollten wir ihn zurückhaben. In der Aussage „Ich habe mehr Zeit hinter mir als vor mir“ werden die Zeitverhältnisse im 58. Lebensjahr auf einfache Weise wiedergegeben. Der andere verkürzt unsere Lebenszeit dadurch, dass er gegangen ist, während wir auf der Erde verbleiben. Man kann dieses Gefühl des Zeitverlusts ausgleichen, indem wir dem Verstorbenen unsere Liebe in seine Welt nachsenden. Rudolf Steiner empfiehlt: „Nicht etwa hart sollen wir werden oder gleichgültig. Aber es soll uns möglich sein, auf den Toten zu blicken mit dem Gedanken: „Meine Liebe begleitet dich! Du bist von ihr umgeben.“
Wir bleiben eine Quelle der Wärme
Wenn ein starker Geist in der Tochter lebt, so wächst die Chance, dass der Tod der Mutter ihre Gefühle verändert. Ihr Tochter-Herz verwandelt sich in ein schwesterliches Herz. Geistige Wärme ermöglicht es, erstarrte Denkformen in Bewegung zu bringen. Ihre Mutter mag sie einst auf die Erde gebracht haben. Nachdem aber die Mutter alt geworden der physischen Welt den Rücken zugewandt hat, lebt die Tochter allein mit sich auf der Erde. Die hergebrachte Rolle, die sie als Tochter noch in sich trägt, wird abnehmen. Zunehmen wird das Gefühl, allein der Erde und der Natur anverwandelt zu sein, um mit der Mutter verbunden zu bleiben. Geistige Zusammenhänge erwachsen ihr aus dem mütterlichen Gang durch die Pforte. Die Tochter erkennt in der gestorbenen Mutter den geistigen Säugling, welcher der Begleitung auf der Erde bedarf. Der Säugling im Geist ist der Erde zwar entwachsen, aber auf die unmittelbare Fürsorge und Pflege von dort noch angewiesen. Die einzige Möglichkeit, diesen Zusammenhang zu beenden, ist es, sich vorzustellen, dass der Verstorbene in der geistigen Welt das Leben als neue, unvergängliche, als niemals versiegende Tatsache erlebt. Aus der unsichtbaren Wärme wird das verbindende Wärmewesen, die Wärme lässt das feste Band zur Mutter zu flüssig werden, sie löst den Fluss der Dinge in Luftiges auf und sie verwandelt die Liebe in Erkenntnis.
Abwesende Wärme macht uns ein unangenehmes Gefühl, die Kälte weckt in uns die Kraft der Wärme. Wärme wird zur Quelle unserer Bewegung. So war es in der Kindheit der Tochter. Sie mag sich der Zeit erinnern, als sie in Kindertagen zur Winterzeit im Schnee gebadet hat. In der von Schnee bedeckten Landschaft hat sie zusammen mit anderen Kindern sich ausgelassen bewegt. Erst am Abend kehrte sie schwitzend zur Mutter ins warme Haus zurück. Um sie aufzuwärmen, verbrachte sie eine Zeit mit den Geschwistern am warmen Ofen.
Es ist eine große Erleichterung für die Zurückbleibenden, die Trauer an einem warmen Ort zu vollziehen. Es ist ein Trost, die Trauer in der Gemeinschaft mit anderen zu vollbringen. Wir benötigen als Trauernde viel Wärme, um die Trauerzeit durchzustehen, besonders, wenn wir zum Zeitpunkt des Hinscheidens unserer Mutter zwischen 56 und 63 Jahre alt sind.
Aus Einheit wird Verbundenheit
Wer mit 58 Jahren seine Mutter oder seinen Vater durch Tod verliert, erfährt einen seelischen, mehr aber noch einen physischen Verlust. Um diesen Verlust auszugleichen, entsteht eine Sogwirkung. Der Sog kann sich derart steigern, dass wir dem Verstorbenen hinterhersterben wollen. Dieses leibliche Gefühl des Mitgenommen-Werdens kann nur verstehen, der weiß, wie sehr wir mit unseren physischen Leibern miteinander auf der Erde allein dadurch verbunden waren, dass wir uns gegenseitig sahen, hörten, rochen, bewegten und miteinander sprachen. Räumliche Nähe zweier Menschen bedeutet in einer gewissen Weise, eine Einheit zu bilden, besonders dann, wenn diese Nähe bereits in Kindertagen intensiv gelebt worden ist. Der Zurückbleibende hat den Eindruck, dass er einen Teil seines Körpers an den Verstorbenen verliert. „Er oder sie nimmt etwas von mir mit“, äußert sich dieses Gefühl in der Sprache. Dieses „etwas von mir“ kann man sich so vorstellen, dass der nur noch scheinbar vorhandene Leib des Verstorbenen in alter Gewohnheit in dem Lebensleib des Nachkommen drinsteckt und diesen mit dem Tod nun verlässt. Dabei entsteht eine Reibung dadurch, dass der Lebensleib des einen sich aus dem physischen Leib des anderen herauszieht.
Dem Verstorbenen seine Gegenstände belassen
Entfernt sich einer von zwei so miteinander verbundenen Menschen, indem er stirbt, dann entsteht im zurückgebliebenen Angehörigen so etwas wie eine Sehnsucht, den alten Zustand der Verbundenheit wieder herzustellen. Doch das ist nicht möglich. Daher ist es wichtig für die Trauer, der oder dem Verstorbenen sorgsam seine Gegenstände zu belassen. Man darf es sich so vorstellen: Der Verstorbene kann zwar nicht seine alten Werkzeuge in der geistigen Welt benutzen. Aber er kann sich ihrer vergewissern. Er muss sie nicht berühren. Ich weiß von einem Fall, da hat ein Sohn die Werkstatt seines verstorbenen Vaters 10 Jahre lang unverändert belassen. Sie blieb all die Jahre so, wie dieser am Tag des Todes sie zurückgelassen hat. Der Sohn hat dadurch das Gefühl vermieden, selbst mitgehen und dem alten, gestorbenen Vater folgend zu müssen. Die unberührt gelassene Werkstatt bedeutete, dass die Gegenstände des Verstorbenen in der physischen Welt verbleiben.
Mit 51 Jahren durch Erinnerung trauern
Bis hierher sind wir davon ausgegangen, dass der Trauernde 58 Jahre alt ist. Etwas ganz anderes ist es, wenn uns der Tod eines Elternteils schon ein paar Jahre davor ereilt, sagen wir, mit 51 Jahren. In diesem Fall wird die schmerzliche Seite des Geschehens in einer intensiven Erinnerung bestehen. Die Bilder der gemeinsamen Zeit verlassen uns nicht. Mit den Bildern beim Erinnern tritt der Trennungsschmerz in den Hintergrund. Und noch etwas anderes tritt in Erscheinung: Wir werden vorübergehend unseren Lebensrhythmus verlieren, der Rhythmus, der aus Schlafen und Wachen besteht, aus regelmäßigen Gewohnheiten der verschiedensten Art. Durch den Tod der Mutter oder des Vaters verlieren wir mit 51 Jahren vorübergehend unsere Tages- und Nachtrhythmen, den wir erst nach und nach wieder neu aufbauen werden können.